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Das Zweibrüdermärchen


Das Zweibrüdermärchen gehört zu den ägyptischen Literaturwerken mit dem höchsten Bekanntheitsgrad auch über den engen Kreis der Ägyptologie hinaus. Der Text ist in einem einzigen Manuskript erhalten, dem nach seiner früheren Besitzerin Elisabeth d'Orbiney benannten Papyrus d'Orbiney, und wurde im Jahre 1857 vom Britischen Museum erworben (Museumsnr. EA 10183).

Während uns, wie bei fast allen ägyptischen Literaturwerken, der Autor unbekannt bleibt, nennt der Kolophon als Kopisten den Schatzhausschreiber Enene (Jnj-nB). Der Text ist in musterhafter hieratischer Buchschrift geschrieben und wird in der modernen Ägyptologie gern als Schultext zur Einführung in die hieratische Schrift verwendet.
Die etwa 6 m lange und 20 cm hohe Schriftrolle besteht aus 20 aneinandergeklebten, im ganzen noch gut erhaltenen Papyrusblättern, von denen aber die ersten fünf einige größere Lücken aufweisen. Das letzte Blatt sowie die Rückseite der Rolle sind mit nicht zum Text gehörigen Notizen beschrieben, worunter sich, für die Datierung hilfreich, der Name des Sethi­Merenptah befindet, der mehrfach als Kronprinz unter Merenptah (ca. 1213­1203 v.Chr.) belegt und vielleicht mit dem späteren König Sethos II identisch ist.



(1) ' 'Es waren einmal zwei Brüder von demselben Vater und derselben Mutter. Der ältere hieß Anubis und der jüngere Bata. Anubis besaß ein Heim und eine Ehefrau, '­sein jüngerer Bruder hingegen lebte bei ihm wie ein Sohn. Er war es, der dem älteren Bruder Kleidung anfertigte, wenn er das Vieh auf die Weide trieb, und er war es auch, der pflügte, für ihn erntete und alle Arbeiten für ihn verrichtete, die auf dem Feld anfielen. Dieser jüngere Bruder war nun aber ein Bild von einem Mann, wie man sonst nirgends jemanden findet, und in ihm steckte die Kraft eines Gottes. 

(2) Einige Zeit darauf [hütete] der jüngere Bruder nach seiner täglichen Gewohnheit sein Vieh, und jeden Abend, wenn er nach Hause zurückkehrte, trug er eine Ladung von allerlei Gemüse, von Milch, Holz und vielen anderen guten Feldfrüchten mit sich. Er legte sie dort ab, wo der ältere Bruder mit  seiner Frau wohnte, und dann aß und trank er selbst etwas, [ging und schlief in] seinem Stall mitten unter seinem Vieh [allein]. 

(3) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, [bereitete er] gekochte [... zu] und tischte sie seinem älteren Bruder auf. Ihm aber gab [der ältere Bruder] Brot auf die Weide mit, und dann trieb er seine Rinder vor sich her, um sie auf der Weide fressen zu lassen. Die Rinder sagten ihm, dass das Gras an bestimmten Stellen besonders gut sei, und weil er alles verstehen konnte, was sie sprachen, brachte er sie dorthin, wo das Kraut, das sie mochten, am besten wuchs. Die Rinder, die er hütete, gediehen so prächtig, daß sie sich "um ein Vielfaches vermehrten. 

(4) Zur Zeit des Pflügens sagte der ältere Bruder zu ihm: »Mach uns ein [Rinder]gespann zum Pflügen fertig, denn der Acker ist herausgekommen und jetzt gut zu bearbeiten. Und nimm auch gleich Saatgut mit aufs Feld, dann können wir uns morgen ganz der Feldarbeit widmen.« Der jüngere Bruder traf alle Vorbereitungen, die ihm sein älterer Bruder aufgetragen hatte. 

(5) Als es hell wurde und der nächste "Tag anbrach, machten sie sich mitsamt ihrem Saatgut zum Feld auf. Sie widmeten sich ganz der Feldarbeit und waren sehr zufrieden damit, wie ihnen am Beginn ihrer Feldbausaison die Arbeit von der Hand ging. 

(6) Einige Zeit darauf ging ihnen auf dem Feld das Saatgut aus. Der ältere Bruder schickte seinen jüngeren Bruder los, er solle ins Dorf gehen und für sie Saatgut holen. Dort traf er die Frau des älteren Bruders an, während sie gerade frisiert wurde, und forderte sie auf: »Steh auf und gib mir Saatgut! Ich muss gleich aufs Feld zurück, denn mein älterer Bruder wartet schon auf mich, also lass mich nicht zu spät kommen!« Sie entgegnete: »Geh doch du, öffne den Keller und hole dir heraus, was du willst! Zwing mich jetzt nicht, mein Frisieren zu unterbrechen.« Der junge Mann ging in seinen Stall und besorgte sich einen riesigen Krug, weil er so viel Saatgut wie möglich mitnehmen wollte. Als er sich Gerste und Emmer aufgeladen hatte, kam er wieder herauf. Da fragte ihn die Frau: »Wieviel Gewicht trägst du denn da auf der Schulter?«. Er antwortete: »Das sind drei Sack Emmer und zwei Sack Gerste, also fünf Sack, was ich hier trage.« Sie fing [ein Gespräch mit ihm an]: »Du hast ja so viel Kraft! Jeden Tag sehe ich, wie stark du bist.« Denn sie verspürte den Wunsch, ihn als Mann kennenzulernen. Plötzlich stand sie auf, nahm ihn in die Arme und fragte ihn: »Wollen wir nicht eine Weile miteinander ins Bett gehen? Du wirst Spaß daran haben, und ich will dir später schöne Kleidung machen!« Auf diesen unsittlichen Antrag hin wurde der junge Mann so wütend wie ein Leopard, und die Frau bekam es sehr mit der Angst zu tun. Da machte er ihr Vorwürfe: »Du bist doch für mich wie eine Mutter, und dein Mann ist für mich wie ein Vater! Er als der ältere hat mich ja großgezogen. Wie kannst du mir etwas dermaßen Unrechtes vorschlagen? Sag mir so etwas nie wieder! Dann will ich es auch niemandem weitererzählen und zu keinem Menschen darüber eine Bemerkung machen.« Er nahm seine Last auf und ging aufs Feld fort. Als er zu seinem älteren Bruder gelangte, widmeten sie sich wieder ganz ihrer Arbeit. 

(7) Am Abend kehrte der ältere Bruder nach Hause zurück, während sein jüngerer Bruder noch das Vieh hütete, bevor er, beladen mit allerlei Feldprodukten, seine Tiere auf den Heimweg führen würde, um sie in ihrem Stall im Dorf schlafen zu lassen. Die Frau des älteren Bruders hatte mittlerweile wegen ihres Antrags Angst bekommen. Sie besorgte sich Fett und einen Verband und machte sich wie eine zurecht, die scheinbar verprügelt worden war, denn sie wollte ihrem Mann erzählen, dass sein jüngerer Bruder sie geschlagen habe. Als nun ihr Mann wie jeden Abend seine Arbeit verließ und nach Hause kam, fand er seine Frau vor, wie sie scheinbar leidend da lag. Weder wusch sie ihm die Hände, so wie er es gewohnt war, noch hatte sie für ihn Feuer angezündet, und in seinem Haus war es dunkel. Statt dessen lag sie darnieder und übergab(?) sich. Ihr Mann fragte sie: »Wer hat sich mit dir gestritten?« Sie antwortete: »Niemand hat sich mit mir gestritten, nur dein  kleiner Bruder! Als er kam, um für dich Saatgut zu holen, fand er mich hier alleine und wollte, dass ich eine Weile mit ihm ins Bett gehe und mein Haar öffne. Natürlich habe ich nicht auf ihn gehört, sondern entgegnet: »Ich bin doch deine Mutter, nicht wahr? Und dein älterer Bruder ist für dich wie ein Vater!« Da bekam er es mit der Angst zu tun und schlug mich, damit ich dir nichts erzähle. Wenn du ihn jetzt am Leben lässt, dann will ich sterben. Sobald er heimkommt, töte ihn, denn ich habe jetzt wegen dieses üblen Plans zu leiden, den er heute Mittag mit mir vorhatte.« Der ältere Bruder wurde so wütend wie ein Leopard. Er ließ seinen Speer wetzen und nahm ihn an sich. Dann versteckte er sich hinter der Stalltür in der Absicht, seinen jüngeren Bruder zu töten, sowie er am Abend heimkommen würde, um das Vieh in den Stall zu führen. Bei Sonnenuntergang lud dieser sich, so wie er es immer tat, alles Gemüse auf und kehrte heim. Als die erste Kuh dabei war, in den Stall einzutreten, warnte sie ihren Hirten: »Pass auf, da vor dir steht dein älterer Bruder mit seinem Speer und will dich töten. Lauf vor ihm fort!« Er verstand, was seine Leitkuh sprach, und als die nächste eintrat, sagte sie dasselbe. Er warf einen Blick unter die Stalltür, und als er dort die Füße seines älteren Bruders erkannte, wie er hinter der Tür stand und seinen Speer bei sich hatte, ließ er seine Last zu Boden fallen, machte sich sofort auf die Flucht, und der ältere Bruder rannte mit seinem Speer hinter ihm her. Da betete der jüngere Bruder zu Re­Harachte: »Mein barmherziger Herr! Du bist es doch, der Unrecht und Recht unterscheidet!« Re erhörte all sein Flehen und schuf zwischen ihm und seinem älteren (Bruder) ein breites Gewässer voller Krokodile, so dass sie auf verschiedene Seiten gerieten. Der ältere Bruder klatschte zweimal in die Hände, weil er ihn nicht hatte töten können. Nun rief ihm der jüngere Bruder am Ufer zu: »Warte dort, bis es hell wird! Wenn Atona aufgeht, werde ich dich vor ihm anklagen, und er wird den Sünder dem Gerechten überlassen. Danach werde ich niemals mehr hier bei dir sein, und ich werde auch nirgendwohin kommen, wo du dich aufhältst, sondern ich gehe in das Tal der Zeder fort.« 

(8) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, als Re­Harachte aufging, konnten sie einander wieder sehen. Nun beschuldigte der junge Mann seinen älteren Bruder: »Warum verfolgst du mich, um mich im Unrecht zu töten, ohne mich auch nur anhören zu wollen? Ich bin immerhin dein jüngerer Bruder, du bist für mich wie ein Vater und deine Frau ist für mich wie eine Mutter! Als du (mich) losgeschickt hast, um für uns Saatgut zu holen, fragte mich deine Frau, ob wir uns eine Weile miteinander ins Bett legen wollten. Doch nun hat sie es dir genau umgekehrt dargestellt, nicht wahr?« Und er erklärte ihm alles, was zwischen ihm und der Frau vorgefallen war. Dann schwor er bei Re­Harachte: »Du hast mich verfolgt, um mich im Unrecht zu töten, und deinen Speer mitgenommen, und das alles wegen des Geschlechtsteils dieser verderbten Frau!« Er nahm ein Schilfmesser, schnitt sich den Penis ab und warf ihn ins Wasser, wo ihn der Wels verschluckte. Da sank er zusammen und wurde ganz schwach. Sein älterer Bruder bekam großes Mitleid mit ihm und fing laut zu schluchzen an, doch wegen der Krokodile konnte er nicht zu seinem jüngeren Bruder hinüber gelangen. Dieser aber rief ihm zu: »Wenn du denkst, etwas Böses sei geschehen, warum kannst du nicht auch an etwas Gutes denken und dich zum Beispiel an etwas erinnern, was ich für dich getan habe? Geh jetzt zu deinem Haus und versorge dein Vieh selbst, denn ich werde nirgends mehr bleiben, wo du bist. Ich gehe fort in das Tal der Zeder, doch deine Aufgabe wird es einmal sein, zu kommen und dich um mich zu kümmern. Du wirst nämlich erfahren, dass mir etwas zustößt, und das kommt so: Ich werde mir das Herz herausnehmen und es ganz oben auf die Blüte der Zeder legen, aber dann, wenn die Zeder einmal gefällt wird und es zu Boden fällt, musst du es suchen kommen. Und solltest du auch sieben Jahre lang nach ihm suchen, gib den Mut nicht auf. Denn wenn du es findest und in eine Schale mit frischem Wasser legst, dann werde ich Wiederaufleben, um mich dafür zu rächen, was mir angetan wurde. Dass mir etwas zustößt, wirst du aber erfahren, wenn man dir einen Krug Bier reicht und es überläuft. Wenn dir das passiert, warte keinen Augenblick mehr!« Darauf zog er in das Tal der Zeder fort, sein älterer Bruder aber machte sich allein auf den Heimweg, und dabei fasste er sich an den Kopf und war mit Erde beschmiert. Als er schließlich zu Hause ankam, tötete er seine Frau, warf sie den Hunden vor und trauerte fortan um seinen Bruder. 

(9) Einige Zeit darauf war der jüngere Bruder ganz allein im Tal der Zeder und verbrachte die Tage damit, Wild in den Bergen zu jagen. Wenn er abends heimkehrte, ging er unter der Zeder schlafen, auf deren Blüte ganz oben sein Herz lag. 

(10) Einige Zeit darauf, als er den Wunsch bekommen hatte, sich ein Heim zu gründen, errichtete er sich im Tal der Zeder eigenhändig ein prachtvoll und reichhaltig ausgestattetes Schloß. Als er einmal aus seinem Schloß heraustrat, begegnete er der Götterneunheit, die umherzog, um überall in ihrer Welt nach dem Rechten zu sehen. Da wandte sich die Neunheit an eines ihrer Mitglieder, indem sie ihn folgendermaßen ansprach: »Hallo Bata, du Stier der Neunheit! Bist du hier allein und musstest wegen der Frau deines älteren Bruders Anubis deine Heimat verlassen? Mittlerweile ist seine Frau getötet worden, du hast ihm also alles vergolten, was dir angetan wurde.« Sie bekamen großes Mitleid mit ihm, und Re­Harachte bat Chnum, für Bata eine Frau zu formen, damit er nicht länger allein wohnen müsse. Da erschuf Chnum für ihn eine Lebensgefährtin, und sie war von allen Frauen auf der Welt die schönste, denn von jedem Gott steckte etwas in ihr. Die sieben Hathoren kamen herbei, um sie zu besehen, und prophezeiten einstimmig, dass sie einst durch ein Schwert sterben werde. Bata fand großes Gefallen an ihr. Sie wohnte in seinem Haus, während er den Tag über Wild in den Bergen jagte, es heimbrachte und ihr vorlegte, und er warnte sie: »Geh nicht hinaus, damit dich nicht das Meer fortträgt. Ich kann dich ja nicht vor ihm retten, denn ich bin eine Frau so wie du. Mein Herz liegt ganz oben auf der Blüte der Zeder, und wenn es jemand findet, muss ich mit ihm kämpfen.« Und da offenbarte er ihr sein ganzes Geheimnis. 

(11) Einige Zeit darauf, als Bata wie jeden Tag zur Jagd fortgezogen war, ging das Mädchen hinaus und spazierte unter der Zeder umher, die neben ihrem Haus stand. Auf einmal erblickte das Meer sie und floss hinter ihr her. Sie lief sofort vor ihm weg und rannte in ihr Haus zurück. Das Meer rief der Zeder zu: »Halte sie für mich fest!«. Die Zeder konnte noch eine Locke aus ihrem Haar reißen, und das Meer trug sie nach Ägypten und legte sie an der Stelle ab, wo die königlichen Wäscher tätig waren. So nahmen die Kleider des Pharao den Geruch der Locke an. Der Pharao begann den königlichen Wäschern vorzuwerfen, dass seine Kleider noch nach Salböl röchen, und er fing jeden Tag aufs neue Streit mit ihnen an. Als sie nicht mehr wussten, was sie tun sollten, begab sich der Chef der königlichen Wäscher, der über die ständige Kritik an ihm sehr bekümmert war, zum Ufer. Dort machte er halt, stieg auf die Dünen und entdeckte direkt vor sich die im Wasser schwimmende Haarlocke. Er ließ jemanden hinuntersteigen, der ihm die Locke herbeiholte. Es stellte sich heraus, dass sie einen überaus lieblichen Geruch verströmte, und er brachte sie zum Pharao. Nun wurden die königlichen Gelehrten herbeigerufen. Sie erklärten dem Pharao: »Diese Locke muß einer Tochter des Re­Harachte gehören, in der etwas Samen von jedem Gott steckt. Die Locke ist ein Gruß an Sie aus dem Ausland! Sie sollten in die ganze Welt Kundschafter aussenden, die nach dem Mädchen suchen. Und mit dem Kundschafter, der in das Tal der Zeder zu gehen hat, sollten Sie eine große Begleitmannschaft mitschicken, um sie herzubringen.« Seine Majestät war der Meinung, dass ihr Vorschlag ausgezeichnet sei, und die Leute wurden ausgesandt. 

(12) Einige Zeit darauf kehrten die Leute, die ins Ausland gezogen waren, wieder zurück, um Seiner Majestät Bericht zu erstatten. Doch diejenigen, die in das Tal der Zeder gezogen waren, kamen nicht zurück, denn Bata hatte sie getötet und nur einen von ihnen übrig gelassen, der Seiner Majestät Bericht erstatten sollte. Dieses Mal schickte Seine Majestät einen großen Soldatentrupp mitsamt einer Streitwagenabteilung los, um das Mädchen zu holen. Es befand sich unter ihnen aber auch eine Frau, der allerlei prächtiger Frauenschmuck mitgegeben worden war, und mit dieser Frau zusammen kam sie nach Ägypten. Im ganzen Land jubelte man ihr zu, und seine Majestät verliebte sich über alle Maßen in sie 'und ernannte sie zur »Großen Dame«. Einmal unterhielt er sich mit ihr und wollte von ihr erfahren, was es mit ihrem Ehemann auf sich habe. Da forderte sie Seine Majestät auf, die Zeder fällen und zersägen zu lassen. Der König schickte Soldaten mit ihren Bronzewerkzeugen los, um die Zeder zu fällen. Als sie zu der Zeder gelangten, fällten sie die Blüte, auf der das Herz Batas lag, und in diesem verhängnisvollen Augenblick fiel er tot um. 

(13) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, nachdem die Zeder gefällt worden war, trat Batas älterer Bruder Anubis in sein Haus. Während er sich die Hände wusch, wurde ihm ein Krug Bier gereicht, und es lief über. Dann bekam er einen anderen mit Wein, und der war schlecht geworden. Daraufhin holte er seinen Stab und seine Sandalen herbei sowie seine Kleider und seine Waffen und machte sich unverzüglich auf die Reise ins Tal der Zeder. Als er das Schloß seines jüngeren Bruders betrat, fand er ihn dort tot auf seinem Bett liegend, und wie (er so seinen) jüngeren Bruder als einen Toten daliegen sah, brach er in Tränen aus. Nun ging er daran, das Herz seines jüngeren Bruders unter der Zeder zu suchen, unter der er sich abends immer schlafen gelegt hatte. Drei Jahre lang suchte er nach ihm und fand es nicht. Als sein viertes Jahr begann, überkam ihn der Wunsch, nach Ägypten heimzukehren, und am nächsten Tag, so nahm er sich vor, würde er fortgehen. 

(14) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, begann er wieder unter der Zeder umherzugehen und suchte den ganzen Tag lang nach dem Herzen. Am Abend machte er sich fertig für den Rückweg und warf noch einmal einen letzten Blick, um nach dem Herzen auszuschauen. Da entdeckte er eine Beere und nahm sie mit auf den Heimweg, doch das war das Herz seines jüngeren Bruders! Er holte eine Schale mit kühlem Wasser, legte das Herz hinein und setzte sich (wie) jeden Tag zur Ruhe. 

(15) Als es Nacht geworden war, saugte das Herz das Wasser auf. Da regte sich Bata am ganzen Körper und begann auf seinen älteren Bruder zu schauen, denn sein Herz lag in der Schale und war jetzt weich geworden. Anubis brachte seinem jüngeren Bruder die Schale mit kühlem Wasser, in der sich sein Herz befand, und (gab) sie ihm zu trinken. Sein Herz trat an seinen Platz, und er wurde wieder so, wie er gewesen war. Da umarmten sie sich und redeten miteinander. Bata kündigte seinem älteren Bruder an: »Ich verwandle mich bald in einen gewaltigen Stier, der herrlich farbenprächtig ist und dessen Wesen niemand versteht. Du sollst auf meinem Rücken reiten, bis die Sonne wieder aufgeht und wir bei meiner Frau sind, so dass ich mich rächen kann. Bring mich also zum Pharao! Dann wird man dir jeden Dank erweisen, und man wird dich mit Silber und Gold bezahlen, wenn du mich dorthin bringst. Und ich werde dann zu einer großen Attraktion werden und überall mit Jubel empfangen werden. Danach darfst du in dein Dorf zurückkehren.« 

(16) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, verwandelte sich Bata so, wie er es seinem älteren Bruder angekündigt hatte. Anubis ritt bis zum nächsten Morgen auf seinem Rücken, und da gelangte er zu dem Ort, wo der Pharao wohnte. Seine Majestät wurde über ihn unterrichtet. Als der König den Stier sah, geriet er vor Freude außer sich und veranstaltete für ihn ein gewaltiges Opferfest, weil er das Vorkommnis für eine bedeutende Wundererscheinung hielt. Überall jubelte man dem Stier zu. So wurde er dem älteren Bruder mit Silber und Gold bezahlt, und dieser siedelte sich wieder in seinem Dorf an. Der König schenkte ihm zahlreiches Personal und viele Besitztümer und schätzte ihn am meisten von allen Untertanen im ganzen Land. 

(17) Einige Zeit darauf trat der Stier in die Küche, und als er der Dame gegenüberstand, fing er mit ihr an zu sprechen: »Hier bin ich und lebe wieder!« Sie fragte ihn, wer er denn sei, und er antwortete: »Ich bin Bata. Du weißt ja wohl, als du erwirkt hast, dass die Zeder für den Pharao zersägt wurde, war es um meinetwillen, damit ich ums Leben komme. Aber jetzt bin ich hier und lebe wieder, und zwar als Stier!« Die Dame wurde dadurch, was ihr Mann ihr da mitteilte, in große Angst versetzt. Nachdem er die Küche verlassen hatte, begann Seine Majestät sich mit ihr einen schönen Tag zu machen. Sie schenkte dem König Getränke ein, und er war mit ihr sehr glücklich. Da bat sie Seine Majestät: »Schwöre mir bei Gott, dass du mir erhören wirst, um was ich dich jetzt bitte!« Und er erklärte sich bereit, alle ihre Bitten zu erhören. Nun forderte sie: »Lass mich von der Leber dieses Stieres essen, dann kann er nichts anstellen!« Darüber wurde der König sehr traurig und bekam mit ihm großes Mitleid. 

(18) Als es hell wurde und der nächste Tag anbrach, kündigte der König ein großes Fest an, bei dem der Stier geopfert werden sollte. Er schickte einen königlichen Oberkoch los, um den Stier darzubringen, und so wurde er schließlich geschlachtet. Als er auf den Schultern der Träger lag, zuckte er mit dem Hals, und zwei Blutstropfen von ihm fielen neben die Türpfosten des Palastes, auf jede Seite des königlichen Hauptportals einer. Sie wuchsen zu zwei großen Persea-­Bäumen heran, die beide erstklassig beschaffen waren. Daraufhin wurde Seiner Majestät mitgeteilt, dass es eine neue große Attraktion für ihn gebe, denn in der Nacht seien neben dem königlichen Hauptportal zwei große Persea-Bäume emporgewachsen. Überall wurde über sie gejubelt, und der König brachte ihnen Opfer dar. 

(19) Einige Zeit darauf erschien Seine Majestät mit einem bunten Blumenkranz um den Hals am Lapislazulifenster. Er (stieg) persönlich auf einen Wagen aus Elektron und fuhr aus dem Palast heraus, um die Persea-Bäume zu besichtigen. Kurz darauf folgte die Dame auf einem Pferdegespann. Seine Majestät ließ sich unter einem der Persea-Bäume nieder, und der Baum sprach seine Frau an: »He, du Verräterin! Ich bin Bata und bin trotz deiner am Leben. Du weißt ja wohl, als du die Zeder für den Pharao hast fällen lassen, war es um meinetwillen. Und als ich zu einem Stier wurde, hast du mich schlachten lassen.« 

(20) Einige Zeit darauf war die Dame dabei, dem König Getränke einzuschenken, und er war mit ihr sehr glücklich. Si bat Seine Majestät: »Schwöre mir bei Gott, dass du mir erhören wirst, um was ich dich jetzt bitte!« Und er erklärte sich bereit, alle ihre Bitten zu erhören. Nun forderte sie: »Laß diese beiden Persea­-Bäume fällen und daraus schöne Möbel herstellen!«  Er erhörte alles, was sie verlangte. 

(21) Kurze Zeit darauf schickte Seine Majestät erfahrene Zimmerleute los, und die Persea­-Bäume wurden für den Pharao gefällt. Die Dame Königsgemahlin sah dabei zu, und da sprang ein Splitter ab und flog der Dame in den Mund. Sie verschluckte ihn, und im selben Augenblick empfing sie und wurde schwanger. Und der König machte aus den Bäumen alles, was sie sich wünschte. 

(22) Einige Zeit darauf gebar sie einen Sohn, und man ging zum König und teilte ihm mit, dass ihm ein Sohn geboren worden war. Man holte ihn herbei und wies ihm eine Amme und Kindermädchen zu. lm ganzen Land brach man in Jubel aus. Als der König sich einmal einen schönen Tag machte, nahm er ihn auf den Schoß. Von diesem Augenblick an liebte Seine Majestät ihn über alle Maßen, und er ernannte ihn zum Prinzen von Nubien. 

(23) Einige Zeit darauf ernannte ihn Seine Majestät zum Kronprinzen des ganzen Landes. 

(24) Einige Zeit darauf, als er viele Jahre als Kronprinz des ganzen Landes amtiert hatte, fuhr Seine Majestät in den Himmel auf. Nun befahl der (neue) König, ihm seine hohen Hofbeamten zu bringen, weil er sie über seine ganze Geschichte aufklären wollte. Dann führte man seine Frau vor, er klagte sie vor ihnen an, und unter ihnen gab es nur Zustimmung. Man holte auch seinen älteren Bruder herbei, und er ernannte ihn zum Kronprinzen seines ganzen Landes. Er blieb dreißig Jahre lang König von Ägypten, und an dem Tag, als er aus dem Leben schied, trat sein älterer Bruder an seine Stelle.
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Kolophon: So ist es gut und in Frieden zu Ende gekommen. Zum Gefallen des Qagab, des Schreibers der königlichen Schatzkammer, des Schreibers Hori und des Schreibers Meriemope. Geschrieben von dem Schreiber Enene, dem dieses Schriftstück gehört. Wenn jemand dieses Schriftstück kritisieren sollte, soll Thot ihm zum Feind werden.

Auf dem letzten, ansonsten unbeschriebenen Blatt: 
Der Wedelträger zur Rechten des Königs, der Erbprinz, der königliche Schreiber, der General, der älteste Sohn des Königs, Seti­Merenptah 

Dem Textende gegenüber auf der Rückseite des Papyrus: 
Der Wedelträger zur Rechten des Königs, der königliche Schreiber, der General, der älteste Sohn des Königs 

dem Textanfang gegenüber auf der Rückseite des Papyrus: 
17 große Brote, 50 minderwertige Brote, 48 Tempelbrote 


http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/2215/1/Peust_Das_Zweibruedermaerchen.pdf

mehr dazu:
https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/150400/1/Wettengel_2003_Die_Erzaehlung_von_den_beiden_Bruedern.pdf
- https://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId=113985&partId=1



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