Wilcke differenziert zwei Grundtypen von Prologen, die "erzählenden" und die "liedhaften". Für die erzählenden Prologe stellt er als Hauptfunktionen den "Rückgriff auf die ferne Vergangenheit" ("Zeitreisen"), die "Beschreibung des Schauplatzes" und die "Vorstellung der Hauptgestalten" ("Bühnen") fest. Unter den liedhaften Prologen unterscheidet er die hymnischen und die klagenden.
Von "Epen" sprechen wir, weil die erzählende Grundhaltung, die sie von der Lyrik und Dramatik abhebt, als wesentliches Definitionsmerkmal erscheint.
1. Zeitreisen-Prologe
Gilgamesh, Enkidu und die Unterwelt (Z.1-26), Enki-Ninmah (Zl. 1-11), Enki´s Reise nach Nibru (Zl.1-3), Shumunda (Zl.1-9), Lugalbanda I (Zl. 1-19)
Diese Prologe schildern mit unterschiedlicher Ausführlichkeit verschiedene Stadien der Urzeit, nämlich die Urzeit als Zeit der Entstehung oder - in Shumunda - als Zeit des Weltuntergang. Hauptfunktion dieser Schilderungen ist die Fixierung des Epos in ferner Vergangenheit: Der Erzähler orientiert den Leser über die Zeit der Handlung, beide begeben sich auf eine Zeitreise von der Jetztzeit in die Urzeit.
Gilgamesh, Enkidu und die Unterwelt (ETCSL 1.8.1.4)
1) In jenen Tagen, in jenen fernen Tagen,
2) in jenen Nächten, in jenen entfernten Nächten,
3) in jenen Jahren, in jenen fernen Jahren,
4) vorzeiten, als alles Wesentliche hervorgebracht worden war,
5) vorzeiten, als für alles Wesentliche recht gesorgt worden war,
6) in den Heiligtümern des Heimatlandes Brot verkostet worden war,
7) die Öfen des Landes angefacht worden waren,
8) der Himmel sich von der Erde getrennt hatte,
9) die Erde sich vom Himmel gelöst hatte,
10) (sich) die Menschheit einen Namen gemacht hatte,
11) als An sich den Himmel genommen hatte,
12) Enlil sich die Erde genommen hatte,
13) der Ereshkigal die Unterwelt zum Geschenk gemacht worden war, 14) er bestiegen hatte, er bestiegen hatte,
15) der Vater (zur Fahrt) in die Unterwelt (sein Schiff) bestiegen hatte, 16) Enki (zur Fahrt) in die Unterwelt (sein Schiff) bestiegen hatte,
17) ergossen sich auf den König die Kleinen,
18) ergossen sich auf Enki die Großen.
19) Diese Kleinen waren Steine (von der Größe) einer Hand.
20) Diese Großen waren Steine, die das Schilfrohr tanzen lassen.
21) Den Boden des kleinen Schiffes von Enki'
22) bedeckten sie, als seien sie herabstoßende Schildkröten.
23) Das Wasser am Bug des Schiffes
24) verschlang den König wie ein Wolf.
25) Das Wasser am Heck des Schiffes
26) griff Enki wie ein Löwe an.
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27) Damals war da ein alleinstehender Baum,
war da ein alleinstehender (c)halub-Baum, war da ein alleinstehender
Baum ..."
Z. 4-10 nennen die folgenden Motive der Urzeit als Zeit der Entstehung: Hervorbringen der Wesenskerne, Entstehung von menschlicher Ernährung, Trennung von Himmel und Erde, Entstehung des Menschen. In den Zeilen 8-10 läßt der Erzähler den Leser schrittweise tiefer in der Zeit zurück "reisen": im ersten Schritt bis zur Entstehung der Wesenskerne und der Zivilisation, im zweiten dann an den allerersten Anfang der Trennung von Himmel und Erde und der darauf folgenden Entstehung des Menschen.
Z. 11-16 behandeln das Entstehungsmotiv "Verteilung der Götter auf ihre Domänen": An, Enlil und Ereshkigal nehmen ihre Bereiche des Kosmos in Besitz. Die Reise Enkis zum "kur" hängt damit eng zusammen. Denn auch er macht sich auf den Weg in seinen kosmischen Bereich, den Süßwasserozean (ab-zu), der wie die Unterwelt (kur) unterirdisch liegt. Dieses Motiv steht am Ende des Prologs, weil die Reise Enkis zum Hauptteil überleitet: der Sturm, der Enki auf seiner Fahrt bedroht, entwurzelt auch den halub-Baum (Z. 30).
Die Zäsur zwischen Prolog und Hauptteil wird durch ud-bi-a "damals" Z. 27 markiert.
Enki und Ninmah (ETCSL 1.1.2)
1) "Nach jenen Tagen, den Tagen, als [sich] Himmel und Erde getrennt
hatten],
2) nach jenen Nächten, den Nächten, als [sich] Himmel und Erde "getrennt hatten,
3) nach jenen Jahren, den Jahren, als die Seinsweisen zugeteilt worden waren,
4) die Anunna geboren worden waren,
5) die Muttergöttinnen geheiratet worden waren,
6) die Muttergöttinnen sich überall in Himmel und Erde verteilt hatten, 7) die Muttergöttinnen [...] schwanger geworden waren, geboren hatten,
8) die Götter verpflichtet (?) worden waren, die Verpflegung für ihr Mahl ...,
9) standen die mächtigen Götter der Arbeit vor. Die kleinen Götter trugen die Fron.
10) Die Götter gruben Kanäle. Deren Erde schütteten sie in Harali auf.
11) Die Götter mahlten Korn. Sie beschwerten sich über dieses Leben.
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12) Damals schlief Enki ... in seinem Bett ..."
Folgende Motive der Urzeit als Zeit der Entstehung kommen vor: Trennung von Himmel und Erde, Zuteilung der Seinsweisen, Geburt der Götter und Verteilung der Götter auf ihre Domänen. Prolog und Hauptteil sind inhaltlich eng verklammert: die Unzufriedenheit der kleinen Götter mit ihrer Arbeit zu ihrem Lebensunterhalt ist die Begründung für die im Hauptteil geschilderte Erschaffung des Menschen, ein auch aus dem akkadischen Atrahasīs-Epos bekanntes Motiv. Die Zäsur zwischen Prolog und Hauptteil ist durch ud-ba "damals" Z. 12 markiert.
Enki´s Reise nach Nibru (ETCSL 1.1.4)
1) In jenen Tagen, als die Seinsweisen zugeteilt worden waren,
2) den Jahren, als An Überfluß hervorgebracht hatte,
3) die Leute wie Gras und Kräuter die Erde durchbrochen hatten,
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4) [Damals] baute der Herr des unterirdischen Süßwassers, der König Enki, ... sein Haus ...
Die Urzeit als Zeit der Entstehung ist durch folgende Motive vertreten: Zuteilung der Seinsweisen, Entstehung von "Überfluss" und des Menschen. Der Prolog dient nur der zeitlichen Rückversetzung des Lesers; eine weitere inhaltliche Beziehung zwischen Prolog und Hauptteil gibt es nicht.
Das Shumunda-Grass (ETCSL 1.7.7)
1) Ein Alter erzählte, ein Alter erzählte:
2) Nachdem der Regen geregnet hatte, die Wände zerstört worden waren,
3) es glühende Scherben geregnet hatte,
4) als die Menschen (wieder) aufeinander zugingen,
5) als (wieder) kopuliert wurde, kopulierte auch er (An).
6) Als (wieder) geküßt wurde, küßte auch er.
7) Nachdem der Regen "Ich will regnen gesagt hatte",
8) nachdem er "Ich will auf die Wände regnen" gesagt hatte,
9) nachdem die Flut "Ich will alles ausradieren" gesagt hatte,
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10) [Damals] kopulierte An. Die Erde gebar ...
Z. 1 fuhrt mit dem ab-ba "Alten" einen Erzähler ein. Seine erzähltechnische Funktion liegt auf der Linie der Urzeitprologe, nämlich Rückversetzung in eine ferne Vergangenheit.
Z. 7-9 schildert die Urzeit als Zeit des Weltuntergangs durch die Sintflut.
Z. 4-6: Die dezimierte Menschheit vermehrt sich nach der Sintflut wieder.
Lugalbanda in der Berghöhle (ETCSL 1.8.2.1)
1) "Vorzeiten, als sich der Himmel von
der Erde getrennt hatte,
2) ... alles Wesentliche ...,
3) ... die alten Ernten ... Gerste gegessen worden war,
4) ... Grenzen errichtet, Grenzmarken gezogen worden waren,
5) Grenzsteine aufgestellt, mit Inschriften beschrieben worden waren,
6) Deiche und Kanäle gereinigt worden waren,
7) Brunnen wie ... senkrecht ausgeschachtet worden waren,
8) vom Euphrat, dem Strom des Überflusses von Unug, (Wasser) abgezweigt worden war,
9) ... gebaut worden war,
10) ... gesetzt worden war,
11) [...] der aurastrahlende An entfernt hatte
12) wurden X des Entums und des Königtums von Unug prächtig ausgeübt.
13) Als Zepter und Stab von Kulaba in der Schlacht das Haupt hoben, 14) der Schlacht, dem Spiel Inanas,
15) als es den Schwarzköpfigen in ihrem langen Leben gut ging,
16) in ihrem Wandel, in ihrem ...,
17) als sie Bergziegen mit ihren stampfenden Hufen,
18) Berggemsen mit ihrem prächtigen Geweih,
19) dem Enmerkar, dem Sohn des Utu, gaben,
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20) damals - hört her - beabsichtigte der König, die Keule gegen die
Stadt zu richten.
21) Enmerkar, der Sohn des Utu,
22) beabsichtigte - hört her -, gegen Aratta, das Bergland der reinen Numinosa, einen ... Feldzug zu unternehmen.
23) Er machte sich auf - hört her -, die rebellischen Länder zu vernichten.
Z. 1-11 schildern die Urzeit als Zeit der Entstehung mit den Motiven: Trennung von Himmel und Erde, Hervorbringen der Wesenskerne und Entstehung von Grenzen als Beispiel für Zivilisation.
Z. 12-19 sind inhaltlich ein typischer Bühnen-Prolog: Unug-Kulaba und Enmerkar, Szenerie und Protagonist der ersten Szenen, werden eingeführt; Z. 15 bezieht sich mit dem Motiv des hohen Lebensalters auf die Urzeit als Zeit der Unfertigkeit. Damit ist dieser Prolog inhaltlich eine Kombination von Zeitreisen- und Bühnen-Prolog. Die Zäsur zwischen Prolog und Hauptteil wird durch ud-ba Z. 20 markiert.
2. Bühnen-Prologe
Bild 1: https://cdli.ucla.edu/search/archival_view.php?ObjectID=P346140
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