In den Schulstreitgesprächen streiten jeweils zwei Schüler miteinander und jeder versucht zu zeigen, dass er der bessere Schüler ist. Sie wurden von den Schulmeistern als didaktische Mittel konzipiert, damit die Schüler die sumerische Umgangssprache einüben und bestimmte Normen und Wertvorstellungen verinnerlichen konnten. Ein Schüler sollte zum Beispiel nicht arbeitsscheu, sondern strebsam sein, er sollte nicht prahlen, sondern Mäßigung zeigen, er sollte zuverlässig sein und nicht die Zeit vertrödeln. Ebenso sollte er nicht faul, sondern anständig sein, und statt Leute gegeneinander aufzuhetzen, sollte er sie versöhnen. Als Vorbild für die jeweiligen Schulstreitgespräche diente das Alltagsleben in der und um die Schule. Es ist gewiss kein Zufall, dass ähnliche Szenen aus dem Schulleben auch in den lateinischen Dialogen des Spätmittelalters und der Renaissance dargestellt werden. Beispielsweise ein Schulstreitgespräch von Paulus Niavis, das ähnlich wie "Enkiḫeĝal und Enkitalu" beginnt.
"Enkiḫeĝal und Enkitalu" und "Ĝirinisa und Enkimanšum" ermöglichen einen Blick auf den Umgang mit streitenden Schülern und auf die Anwendung der Prügelstrafe als Disziplinarmaßnahme im Edubba’a. In Deutschland wurde sie zum ersten Mal 1929 in den Berliner Volksschulen abgeschafft, aber Dritten Reiches wieder eingeführt, 1949 in der Deutschen Demokratischen Republik gesetzlich verboten, 1973 wurden sie auch in der Bundesrepublik abgeschafft, in Bayern allerdings erst sieben Jahre später.
Auch in der altbabylonischen Schule kamen Körperstrafen als Erziehungsmaßnahme zum Einsatz. In dieser Hinsicht sind die Kompositionen um das Schulleben "Der Sohn des Tafelhauses" und "Regeln des Edubba’ a" besonders relevant. Die Schüler konnten sowohl wegen Verstößen gegen die Schuldisziplin als auch wegen mangelhafter Leistungen geschlagen werden. Auf der Straße umhergaffen, ohne Erlaubnis reden, aufstehen, aus dem Raum gehen,
Akkadisch bzw. undeutlich Sumerisch sprechen sowie schreiben mit einer miserablen Handschrift und die Hausaufgabe nicht vorlesen können wurden von den zuständigen Aufsehern bzw. Meistern mit Schlägen bestraft. Es gab aber auch Alternativen zur strengen Züchtigung, denn auf den Verzicht von Schlägen wird bereits in altsumerischer Zeit im "Rat des Šuruppag" verwiesen:
„Die Söhne eines Bauers sollst du nicht schlagen. Sie haben nämlich deine Deiche und Bewässerungsgräben festgestampft (gebaut)."
Durch die Bearbeitung der sumerischen Schulsatire "Der Vater und sein missratener Sohn" von Åke Sjöberg und durch die Untersuchungen zu den mesopotamischen Erziehungsmethoden von Konrad Volk und Claus Wilcke wurde deutlich, dass die bewusste Ablehnung von Körperstrafen als Erziehungsmaßnahmen auch in altbabylonischer Zeit belegt ist. So erfahren wir aus "Der Vater und sein missratener Sohn", dass ein Vater die Wirkungslosigkeit von Schlägen erkannte und deswegen aufhörte, seinen Sohn zu schlagen, der nicht Schreiber, sondern lieber Musiker werden wollte. So sagt der Vater zu seinem Sohn:
„(Dich) zuschlagen (und nochmals) zu schlagen, grämte mich nur. So habe ich dir freien Lauf gelassen.“
"Ĝirinisa und Enkimanšum" wird unter den Beispielen für die strenge Züchtigung innerhalb der altbabylonischen Schule zitiert. Im Gegensatz dazu wird in "Enkiḫeĝal und Enkitalu" keine derartig brutale Strafe erwähnt. Es gibt zwar einen Schuldigen, der offensichtlich bestraft wird, aber der Aufseher schätzt die Praxis des Schlagens als Disziplinarmaßnahme als nutzlos ein:
221(Aufseher)„Warum wart ihr heute den ganzen Tag in Streit verwickelt?
222(A.) Nun, was habe ich mit dem Schlagen erreicht?“
Es muss festgehalten werden, dass in den vorherigen Zeilen weder Enkitalu noch Enkiḫeĝal geschlagen worden sind. Die Aussage ist also vor dem Hintergrund der in der Schule allgemein angewendeten Prügelstrafen zu verstehen. Der springende Punkt ist, dass der Aufseher die Nützlichkeit des Schlagens in Frage stellt und dass er weder eine härtere Tracht Prügel als die übliche, noch Freiheitsentzug androht – wie sie in "Ĝirinisa und Enkimanšum" angekündigt werden –, sondern andere Maßnahmen ergreift. Der Aufseher legt fest, dass sich solche Streitigkeiten nicht wiederholen dürfen.
Nach einem sumerischen Rätsel ist das Edubba’a "das Haus, das die Augen des Schülers öffnet" und die dort vermittelten Kenntnisse und Werte bereiteten die Kinder für das Leben als Schreiber, Wissenschaftler und schließlich auch zu "wahren" Menschen vor.
Quelle:
https://www.academia.edu/36845542/Der_Umgang_mit_streitenden_Schu_lern_in_dem_Edubba_a_nach_den_sumerischen_Schulstreitgesprächen_Enkiḫeĝal_und_Enkitalu_und_Ĝirinisa_und_Enkimanšum
Bild:
Enkiḫeĝal und Enkitalu: https://cdli.ucla.edu/search/archival_view.php?ObjectID=P346237
Enkiḫeĝal und Enkitalu (Dialog 2): https://altorientale-mythologie.blogspot.com/2018/05/enkihegal-und-enkitalu-dialog-2.html
Dialog Enki-manshum und Girini-isag (Dialog 3): http://altorientale-mythologie.blogspot.com/2018/04/dialog-enki-manshum-und-girini-isag.html
Edubba-A Sohn des Tafelhauses: https://altorientale-mythologie.blogspot.com/2018/04/edubba-a.html
Edubba-B Vater und sein missratener Sohn: http://altorientale-mythologie.blogspot.com/2018/05/edubba-b-vater-und-sein-missratener-sohn.html
Edubba-C Schreiber und Aufseher: https://altorientale-mythologie.blogspot.com/2018/03/der-rat-eines-vorgesetzten-einen.html
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